Warum eine Grabrede? Weshalb ist sie für die Hinterbliebenen so wichtig und tröstend? Es ist die Bündelung eines Lebens in zehn bis zwanzig Minuten Redezeit. Der Kosmos einer Biographie, eingefangen im „Wassertropfen“ des letzten Augenblicks. Als Anspruch, Trost und Erfahrungsschatz. Und kreative Herausforderung für den Redner. Nachrufe, Gedenkreden, Nekrologe bilden nicht nur eine religiöse, sondern auch eine literarische Tradition. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Goethes Nekrolog „Zu brüderlichem Andenken Wielands“, – was für den Dichterfürsten sicherlich um einiges leichter war als der „letzte Blick ins eigene Ich“, der an „jene Geheimnisse des Lebens“ rühre, „zu deren Vergegenwärtigung sich selten eine Stunde findet“, wie er Wilhelm von Humboldt in einem Brief bekennt.
Und weil auch heute kaum ein Sterblicher diese Stunde zur Vergegenwärtigung des eigenen Lebens findet, um den in ihrer Trauer Ratlosen eine Botschaft letzter Hand oder einen audio-visuellen Abschied vorzubereiten und zu hinterlegen, obliegt es Angehörigen, Freunden oder Autoren, einen Nachruf zu verfassen. Dies gelingt mitunter umso besser, je größer die Fremdheit zwischen dem Verfasser und dem Verstorbenen ist. Während Angehörige und Freunde von der Todesnachricht hart und mitten ins Herz getroffen und von Gefühlslawinen ergriffen werden, beginnt der fremde Betrachter das gerade erloschene Leben einfühlsam, interessiert und mit gebotener Zurückhaltung zu fokussieren. So entsteht im konzentrierten Gespräch mit den engsten Hinterbliebenen das letzte Abbild vom Dasein eines Menschen.
Begleitet von den Tränen der Trauernden und der Gemütszerrüttung der Getroffenen wird im Kopf des Redenschreibers jener Mensch „geboren“, den die anderen widerstrebend loslassen müssen. Das subtil Gegensätzliche dieser Begegnung fördert positives Denken im Abschiednehmen und hilft, den letzten Gang des geliebten Menschen würdevoll zu gestalten und dabei die Klippen der Seelenzerfaserung, des Tatsachenfetischismus und der Maskerade vorsichtig zu meiden. Die ungezählt vielen Grabreden, die ich bisher verfasst habe, sind authentische Zeugnisse unterschiedlichster Lebensgeschichten aus Ost und West. Auch wenn sie von den Trauergemeinden nicht als Identitätsentwurf für das eigene Leben betrachtet werden konnten und sollten, so boten sie doch allen die Chance zur Selbstbefragung. Die Trauerreden werfen mitunter ein Licht auf weltpolitische Ereignisse der Vergangenheit, auf den Alltag von gestern und heute, auf das Leben unseres Volkes.
Kurz nach der Wende schlugen Wolfgang Thierse und andere Politiker vor, dass sich Menschen aus Ost und West treffen sollten, um sich ihre Biografien zu erzählen. Dies werde helfen, die Fremdheit abzubauen, die sich in den Jahren der deutschen Teilung eingeschlichen habe. Auch wenn es sonderbar, ja makaber klingen mag: Der Friedhof ist genau dafür ein geeigneter Ort, und Trauerreden leisten einen Beitrag in diesem Sinne. Als Autor und Redner fühle ich mich zugleich im Sinne Goethes aufgerufen, meine Zuhörerinnen und Zuhörer anzuregen, die Geheimnisse des eigenen Lebens zu vergegenwärtigen.
(...) In den letzten Wochen seines Lebens war Michael trostlos einsam. Auf seine Absicht, den Freitod zu wählen, hatte es keinerlei Hinweise gegeben; und es gab auch kein Abschiednehmen, nicht einmal einen Abschiedsbrief. Der mit 1 Meter 84 so große und stattliche Mann hat sich ganz zum Schluss als zu zerbrechlich gezeigt. Da war unermessliche stille Verzweiflung: die auseinander gebrochene Ehegemeinschaft, sein Problem mit dem Alkohol, der Verlust des Führerscheins, später des Arbeitsplatzes, der zurückliegende Tod der Mutter, den er wohl nie wirklich verwunden hatte; da waren auch uneinlösbare materielle Verpflichtungen, wie sich im Nachhinein zeigte. Lebensumstände, die jeden mutlos machen. Michael aber resignierte. Er konnte keine lebenswerte Zukunft mehr für sich erkennen. Sein ihm fraglich gewordenes Leben wollte er nicht weiter aushalten. (...)
(...) „Der Tod gehört zum Leben.“ Genau das waren seine Worte. Und er sprach sie nicht nur öfter mal aus, weil er stets einen passenden Spruch auf den Lippen hatte. Er spürte die Wahrheit dieser Worte wohl tiefer als andere Menschen. Klaus B. kannte das Leben in allen seinen Farben. Ein Briefträger ist selbst immer ein Schicksalsbote. Er überbringt gute und schlechte Nachrichten, lang ersehnte Briefe, auch gefürchtete, überbringt Rechnungen, die das Leben aufgemacht hat, und manchmal auch Post mit schwarzem Rand. Feinfühlig, witzig und wenn es sein musste auch grobkantig konnte Klaus B. sein. Er steckte nicht einfach Briefe in den Kasten. Als Briefträger mit Leib und Seele reichte er immer auch einen Trost, einen Witz, eine Anspielung oder ein charmantes Lächeln mit herüber. „Wenn der Postmann zweimal klingelt ...“ – mit Klaus B. kam meist die gute Laune an die Tür. (...)
(...) Es war einmal eine junge, schöne Frau von zierlicher Gestalt und mit vollem, schwarzem Haar. Sie wartete auf ihren Bräutigam. Heiß war es auf den Straßen von Berlin. Die Luft zitterte und alle Menschen waren von einer sonderbaren Aufregung, ja Panik ergriffen. Etwas Unheilvolles ging da draußen vor sich, eine Wut ballte sich auf den Straßen zusammen. Es war ein Tag, der die ganze Welt in Aufruhr versetzen sollte. Und die schöne junge Braut wartete in ihrem Büro auf ihren Walter. Er nannte sie Ulla. Heute sollte Hochzeit sein, Trauung auf dem Standesamt. Doch die Stadt spielte verrückt, Busse und Bahnen blieben in ihren Depots. Walter griff in die Hochzeitskasse, kaufte sich ein Fahrrad und radelte von Weißensee in die Friedrichstraße, um seine Braut zu holen. Es war das schönste Ziel einer Fahrradtour und das schwerste Gepäck, das sich der schmale und nicht sehr große Mann aufzuladen gedachte. (...)
(...) Seine Chance als junger Mensch nahm er in Berlin war: Studium im Westteil der Viermächte-Stadt, Glaube an den gesellschaftlichen Fortschritt. Seit 1951 Betriebszugehörigkeit zu einem volkseigenen Betrieb im Ostsektor. Nach neun Jahren war er Produktionsdirektor, nach weiteren sechs Jahren avancierte er zum Betriebsdirektor. 17 Jahre lang leitete Rolf B. den VEB Technische Gebäudeausrüstung. In dieser Zeit führten ihn Vertragsverhandlungen in das sozialistische Ausland. Bedeutende Baudenkmale trugen und tragen seinen Fingerabdruck: die einstige Stalin- und heutige Karl-Marx-Allee – die 1. sozialistische Straße Deutschlands, wie es damals hieß –, das Friesenstadion, der Palast der Republik. Für seinen unermüdlichen Einsatz wurde er siebenmal als „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet und zweimal als „Verdienter Aktivist“. 1973 wurde Rolf B. mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze geehrt. (...)
(...) Ein Leisetreter war Karl U. nicht. Er war es gewohnt anzupacken, handwerklich in Haus und Garten, aber auch bei den weniger greifbaren Problemen des Alltags. Er verstand es, sich durchzusetzen. Wenn er sich im Recht fühlte, dann traute er sich auch zu kämpfen: wenn es sein musste sogar vor Gericht. Dieses Durchsetzungsvermögen war wohl nicht nur ein angeborener markanter Charakterzug. Es war Härtung durch Schicksalsschläge einer vom Krieg geprägten Biographie. Aus den Schlachten des Nationalsozialismus kam der Neunzehnjährige als Kriegsinvalide heim. Ein Granatsplitter hatte ihn getroffen, Kopf und Hirn verletzt, mit der lebenslangen Folge einer halbseitigen Lähmung und eines chronischen Anfall-Leidens. Bei solch einem Befund kann man es kaum glauben, dass es ein Mensch geschafft hat, weder den Lebensmut noch die Lebenskraft zu verlieren. (...)
(...) Geboren in Lothringen, in dem kleinen französischen Ort Kanfen, im Département de la Moselle, nahe der Stadt Thionville, erlebte die kleine Erna schon sehr früh ihren ersten einschneidenden Umbruch im Leben: Die Mutter folgte ihrem Mann, den sie als deutschen Soldaten kennen und lieben gelernt hatte, nach Deutschland, und so wurde auch Erna aus ihrem französisch-sprachigen Umfeld herausgerissen und hineingestellt in eine für sie neue deutsche Wirklichkeit. Nie riss die Verbindung zu ihrer Schwester, die in Deutschland nicht heimisch wurde, und zu ihren Cousinen und Verwandten ab. Auch nicht zu ihrer Muttersprache Französisch. Ihre stille Sehnsucht nach Frankreich wurde später durch Mauerbau und Reisebehinderung nur größer. Erst im Alter von 65 Jahren konnte Erna ihre Schwester in Frankreich besuchen und in die Arme schließen. (...)
(...) Mit dem nächsten Karrieresprung landete er auf internationaler Ebene. Nunmehr steckte er seinen Kopf in die internationalen Finanzbeziehungen der sozialistischen Länder. Als 39-Jähriger packte er seine Koffer und traf als Experte, Berater und Gruppenleiter beim Sekretariat des RGW in Moskau ein. Sein Tätigkeitsgebiet umfasste das Valuta-, Finanz- und Kreditsystem der RGW-Länder sowie die Beziehungen des RGW zur Internationalen Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und zur Internationalen Investitionsbank. Darüber hinaus organisierte er die Tätigkeit der Ständigen Kommission des RGW für Valuta- und Finanzfragen. An diese Moskauer Zeit erinnern sich seine beiden Töchter ganz besonders gerne und intensiv. Waren es doch zugleich Jahre des Ausbruchs aus der Enge der DDR-Lebensverhältnisse. (...)
(...) Für Sie, lieber Detlef G., war wohl kein Weihnachtsfest so bitter und trostlos wie das letzte. Am Tag vor Heiligabend schloss Ihre Frau für immer die Augen, unmittelbar vor dem Fest der Familie und der Christenheit in aller Welt und vor ihrem eigenen 59. Geburtstag. In dem berühmten Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach gibt es nach den jubelnden und jauchzenden Eröffnungschören das bewegende, zarte Wiegenlied der Maria: „Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh...“ In diesem Geiste bewegen sich auch Ihre Gedanken als liebender Ehemann, der seiner Frau bis zum letzten Atemzug beistand, der ihr die Augen schloss, der in Würde Abschied nahm. „Sie war meine kleine Göttin“, sagten Sie in einem bewegenden Gespräch. (...)
(...) Als sie in ihren letzten Tagen für einen Moment aus ihrem Dämmerzustand erwachte, sagte sie, gewissermaßen selbst verblüfft: „Jetzt habe ich gedacht, ich bin gestorben.“ Dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte sie zuvor schon einmal; da war sie aus einer Ohnmacht zurückgekehrt und rief: „Wäre gar nicht so schlecht gewesen, wenn ich gleich gestorben wäre...“ Diese fast kindliche Koketterie mit dem Gedanken an die eigene Vergänglichkeit entsprach ihrem Humor. Es schwang darin auch immer ein Stück Ungläubigkeit mit, einmal loslassen zu müssen. „Nun mach dir mal keen Kopp“, war bei ihr ein geflügeltes Wort, trotz ihres Misstrauens gegenüber Krankenhäusern. Und mit denen kannte sie sich seit Jahren bestens aus. „Die machen alles falsch hier“, fand sie stets schnell heraus. Im Alter von 71 Jahren war sie am Magen operiert worden; vor acht Jahren dann kam völliges Nierenversagen hinzu (...)
(...) „O wunderschön ist Gottes Erde und wert, darauf vergnügt zu sein!“, diese Zeilen schrieb Ihnen Ihre Mutter zur Erinnerung ins Poesiealbum. Da waren Sie 10 Jahre alt. Als Elisabeth G. so alt war, musste sie bei betuchten Leuten putzen gehen. Sogar schon mit acht Jahren. Damals in Schlesien. Ihr Vater war Bergmann. Sie wuchs zusammen mit vier Schwestern und zwei Brüdern in dem Dörfchen Quolsdorf auf. Elisabeth war die Zweitälteste und die hatte in einer großen Familie ihre festen Aufgaben. Was arbeiten heißt, lernte sie von Kindesbeinen an. Auf vergnügte Zeiten war Gottes Erde in ihrer Jugend nicht eingerichtet. Als sie zur Welt kam, herrschte Krieg: 1916, in ihrem Geburtsjahr, wurde das deutsche Heer erstmals mit Stahlhelmen und Gasmasken ausgerüstet. Mit 15 Jahren arbeitete sie in einem Berliner Lebensmittelladen. (...)
Heute nun haben wir die seltene Gelegenheit, einer 100-Jährigen die letzte Ehre zu erweisen: Paulina A. hatte kein Rezept für eine lange Lebenszeit, und es war auch nicht ihr Bestreben, die Hundert zu erreichen. „Alt werden ist eine Strafe“, pflegte sie zu sagen. Und oft hörte man sie stöhnen: „Ach ist das langweilig!“ Ihrem eigenen Ende sah sie nicht nur gelassen, sondern fast mit drängender Ungeduld entgegen: „Ich weiß ja auch nicht, woran ich einmal sterben soll“, kokettierte sie gerne. Schwach kannte man sie nicht, diese kerngesunde, zierliche und nur 1,60 Meter große Frau. Noch als 95-Jährige stieg Paulina zum Schwimmen in den See und ohne Begleitung ins Flugzeug in die Schweiz. Und mit 99 verkraftete sie sogar eine Lungenentzündung. Doch ihr Lebenswille war zuletzt schwächer als ihre Physis.
(...) Mimi Lu, so wie deine Hände die Tasten des Klaviers sanft berührten, um den Mondscheinzauber von „Claire de lune“, jenem berühmten Klaviersatz von Claude Debussy, in uns zu erwecken – mit dieser friedvollen Sanftheit hast du dein ganzes Leben lang nach Liebe, nach Anerkennung und nach Erfüllung gesucht. Heute begleiten uns zwei deiner Kompositionen und dein Klavierspiel beim Abschiednehmen von dir. Du wurdest wie ein Blütenblatt vom Strom des Schicksals aus dem Reich der Mitte mitten nach Europa getragen, um in der einst zerrissenen und längst wieder glücklich vereinten Hauptstadt Deutschlands anzukommen. Und hier in Berlin wirst du heute zu ewiger Ruhe finden, nach fast fünfundfünfzig Jahren einer wechselvollen und kräftezehrenden Odyssee. Mimi Lu war in einem Elternhaus aufgewachsen, das über Peking hinaus hohes Ansehen genoss: Der Vater war Rektor einer Hochschule für Gesang, die Mutter arbeitete als Dozentin für Englisch. (...)
(...) Lässt sich ein pralles Leben von fast 89 Jahren in ein paar Sätzen erzählen? Vermutlich hätte Otto L. daran nicht eine Sekunde gezweifelt, war er doch ein begnadeter Erzähler, Schriftsteller und Szenarist! Herausforderungen dieser Art gehörten zu seinem künstlerischen Handwerk, das er auf dem Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher erlernt und das er später als Dozent an der Babelsberger Filmhochschule Konrad Wolf an Studenten weitergegeben hat. Und die nahmen begierig auf, was ihnen ein Mann zu erzählen hatte, der die Welt scheinbar in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit erfahren hatte – die alte Welt des Westens, die neue Welt im Osten, aber auch den zivilisatorischen Niedergang durch Nazi-Barbarei und Krieg. Er konnte von den aufkeimenden Hoffnungen in der Stunde Null erzählen, von den Kämpfen in der Zeit der Restauration im Westen Deutschlands (...)
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, so schlug die Todesnachricht von Silvios Unfalltod ein, die Ihnen am Morgen des 28. September von Polizeibeamten überbracht wurde. Ihr Silvio mitten aus dem Leben gerissen! In seinem VW Golf zerschellt an einer Eiche auf der Bundesstraße 198 bei Dambeck westlich von Röbel im Kreis Mecklenburgische Seenplatte. Nur ein Augenblick, nur ein Sekundenschlaf vielleicht, der auch Ihr Leben und das Ihrer übrigen Kinder Sonja, Stefan und Simone mit aus der Bahn schleuderte. Dem Polizeibericht zufolge war Silvio sofort tot. Vermutlich hat er sein Ende nicht kommen sehen und wohl auch nichts gespürt; der einzige Trost in einem Meer von Tränen. Die Bundesstraße 198 gilt als ein Unfallschwerpunkt. Einen Beifahrer oder anderen Unfallbeteiligten hat es – zum Glück bei allem Unglück – nicht gegeben. Silvio hinterlässt viele Fragen. (...)
Im Leben Ihres Vaters spielten Bäume eine zentrale Rolle. Als Gartenbauarbeiter beim Bezirksamt Reinickendorf hat er vierzig Jahre lang den Baumbestand der Region gehegt und gepflegt, ist mit dem Hydrauliksteiger bis hoch in die Kronen der grünen Riesen gefahren, um für deren kraftvollen Wuchs und zugleich für die Sicherheit der Passanten und Verkehrsteilnehmer zu sorgen. Heute nun trauern auch einstige Weggefährten, Kollegen und Freunde um Thomas R., der gerne weiterhin in die Baumkronen aufgestiegen wäre. Vielleicht aber hat er ja längst einen ganz anderen Gipfel erklommen und schwebt inzwischen über allen Wipfeln und über den Sorgen und Nöten des irdischen Alltags. Heißt es nicht, der Himmel spende uns Menschen Trost? Um dies zu empfinden, muss man kein gläubiger Mensch sein. Thomas R. war kein Kirchgänger. Doch „Fakt ist“, so würde er jetzt wohl sagen, dass er dem Himmel schon von Berufs wegen immer ein Stück näher war als andere Menschen.
Theodor W. war Vermessungstechniker. Er arbeitete als ausgebildeter Fachmann anfangs bei der Wismut, einem unter sowjetischem Kommando stehenden Bergbauunternehmen zum Uranabbau. Diese Arbeit war wegen der radioaktiven Strahlung lebensgefährlich, und sie war außerdem streng geheim. Als man Theodor W. ansprach, ob er nicht beim Aufbau des Geheimdienstes der DDR – dem Ministerium für Staatssicherheit in Berlin – dabei sein wolle, sah er dies nicht nur als eine Auszeichnung und einen Vertrauensbeweis seiner Partei, der SED, an, es war auch eine Chance, die radioaktive Unterwelt hinter sich zu lassen und aufzusteigen in die lichten Höhen der Gesellschaft. Oder war die vermeintliche Höhe nicht eher der noch viel tiefere Abgrund? „Unser Vater war sehr geradlinig, pflichtbewusst und still“, erinnern Sie sich als dessen Kinder. „Zu Hause gab es keine Diskussionen zu politischen Themen; und natürlich wurde auch kein Westfernsehen geguckt.“
„Zum Bäcker brauchten wir nie zu gehen!“, erinnern Sie sich, Anneliese, denn der Vater brachte ja die Kuchenpakete von der Arbeit mit nach Hause. Aber Sie halfen als junges Mädchen gerne in der Backstube mit aus. Das schätzte ihr Vater sehr an Ihnen; und Sie konnten unmittelbar erleben, wie stolz und glücklich er als Bäcker und Konditor war. Als strengen Erzieher lernten Sie Ihren Vater nicht kennen, dazu war er viel zu sehr mit der Bäckerei verbandelt. Die Rolle des Erziehers hatte die Mutter vollständig übernommen; sie war zu Hause der Boss. Sicherlich nicht immer zur Freude der Kinder, aber dem Vater war es recht. Er ließ seine Thea schalten und walten und dachte sich seinen Teil. Er vertraute ihr. Er liebte sie. Kennengelernt hatte er seine elf Jahre jüngere, hoch attraktive und auch ein wenig größere Frau in einem Lebensmittelgeschäft, wo sie als Verkäuferin arbeitete. So brachte er aus dem Gemüseladen die Liebe seines Lebens mit.
(...) Hannas Vater arbeitete bei der Berliner Stadtreinigung, und Hannas Mutter verdiente ihr Geld als Arbeiterin in einer Schokoladenfabrik. Sicherlich fiel da auch mal süßer Lohn in Form von Schokolade für die Naschkatzen zu Hause ab. Vielleicht hat ja gerade diese so verführerisch scheinende Tätigkeit der Mutter die Vorstellung bei Hanna bewirkt, dass die Eigenständigkeit der Frau süße Früchte trägt. Außerdem sagt man ja der Schokolade nach, dass sie glücklich und langlebig macht. Auf Mutter und Tochter trifft dies jedenfalls zu: beide wurden 92 Jahre alt. Hannas Mutter hatte viel Sinn für die Freuden des Lebens; nicht nur ihre zehn Kinder mögen ein Ausdruck dessen sein. Überliefert ist, dass sie einmal ihren Ehering im Pfandhaus versetzte, um Geld für den Kostümverleih zu haben. War das Leben auch hart, so gab es doch keinen Grund zu versauern. Eine Urberliner Einstellung.(...)
(...) Ach kleine Karola, mit 17 schon Mutter zu werden, hat die Träume schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie, lieber Sven, hatten eine blutjunge, hoch attraktive Mutter, die noch ihren jugendlichen Träumen vom Glück nachhing. Sie träumte nicht gerade von den Freuden des Mutterglücks, sondern wohl eher von Freiheit, Ungebundenheit und Liebe. Und mit einmal diese Verantwortung! Keine leichte Situation. Glücklich war Karola als Verkäuferin in einer Boutique, die sich nur wenige Schritte vom Kurfürstendammdamm befand. Das war nicht irgendein kleiner Laden, das war eine Fashion-Oase mit gestyltem Umfeld und Laufsteg in die Boutique hinein. In diesem Hotspot der Haute Couture verbrachte sie 20 Jahre ihres Lebens. Mit ihrer Chefin Gisela S. verstand sie sich prächtig. Gemeinsam wurden die Damen älter und älter. (...)
(...) Dolores war eine sehr gute Schülerin. Da sie aber kein Arbeiterkind war und ihr das Abitur verwehrt wurde, machte sie den Umweg über eine Ausbildung zur Industriekauffrau (Industrie-Kaufmann hieß es damals offiziell) im Walzwerk Ilsenburg. Und mit diesem Facharbeiter-Nachweis in der Hand durfte sie an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät in Halle das Abitur nachträglich ablegen. Ihren Wunsch, Ärztin zu werden, setzte sie durch: Aus sechs Jahren Studium – die beiden ersten Jahre in Budapest, die restlichen in Magdeburg – ging sie als Ärztin hervor. 1965 erfolgte ihre Approbation, vier Jahre später ihre Ernennung zur Fachärztin für Augenheilkunde und ihre Promotion. Die Arbeit als Ärztin war für sie nicht nur Lebensunterhalt, sondern Leidenschaft. Doktor Dolores B. genoss einen hervorragenden Ruf als Augenärztin und wurde 1985 mit dem Titel „Sanitätsrat“ ausgezeichnet. Der Ritterschlag unter Medizinern. 1990 eröffnete sie ihre eigene Praxis. (...)
(...) Heinz G. begab sich in die Fußstapfen seines Vaters, wurde Fleischer, erlangte den Meistertitel, alles in der Erwartung, eines Tages die Fleischerei der Eltern weiterzuführen. Doch der Vater übertrug das Geschäft nicht ihm, sondern seinem jüngeren Sohn. Das muss für Heinz ein harter Schlag gewesen sein. Er sagte sich: Danke, Papa, dann mach‘ ich eben mein eigenes Ding! Und das Beste aus Vaters Fleischerei nahm er mit: die Christel. Sie hatte in der Fleischerei gelernt und Arbeit gefunden. Und wo hätte sie die besten Seiten von Heinz gründlicher kennenlernen können als bei der Arbeit. Ihr war nicht verborgen geblieben, dass Heinz nicht nur an Fleisch interessiert war. Die Aussicht auf einen gemeinsamen Lebensweg mit großen Plänen beflügelte nun auch sie. Fleischermeister Heinz und Christel, die Fachverkäuferin für Fleisch und Wurst, – eine perfekte Liaison. Zur Überraschung aller eröffneten sie aber keine Fleischerei, sondern ein Restaurant. (...)